Unser Erleben und Verhalten werden grundlegend durch unsere Erinnerungen und die daraus gelernten Muster bestimmt. Säuglinge und Kleinkinder speichern alle wichtigen Erfahrungen in Neuronalen Netzwerken, besonders in den verschiedenen Sinneskarten mehrfach und parallel. Diese erinnerten Einheiten werden bei späteren Erfahrungen immer wieder mit aufgerufen und gleichzeitig immer weiter verändert. Das heißt, unbewusste Erinnerungen prägen in höchstem Maße unser gegenwärtiges Erleben (vgl. Gottwald 2007, S. 123). Gottwald unterscheidet zwei grundsätzliche Gedächtnisformen. Einmal gibt es das explizite oder deklarative oder auch konzeptuelle Gedächtnis. Dieses entspricht dem üblicherweise bekannten Gedächtnis. Es ist mit Bildern und Worten verbunden und die Gedächtnisinhalte können sehr leicht abgerufen werden. Dafür braucht es nur einen Aspekt dieses Gedächtnisinhaltes als Auslöser. Die Inhalte dieses Gedächtnisses sind vor allem in der Hirnrinde gespeichert. Daneben existiert ein implizites oder auch prozedurales oder perzeptuelles Gedächtnis. Auch wenn dieses das Erleben und Verhalten Grundlegend bestimmt, ist es für unser Bewusstsein nicht direkt zugänglich und ist wesentlich umfangreicher als das explizite Gedächtnis. Damit stellt es für Gottwald das „Substrat des Unbewussten dar“ (vgl. Gottwald 2007, S. 123–124).
„Eingehende Sinnesdaten sowie propriozeptive Signale werden beständig mit Gedächtniseinträgen verglichen (ähnliche frühere Situationen, Objekte, Menschen, dazugehörige Körperbewegungen, Gefühle, Empfindungen, Körperhaltungen) und lösen entsprechende Handlungs- und Bewegungsimpulse aus, überwiegend, ohne dass uns dies bewusst wird“ (Koemeda-Lutz, Steinmann 2004, S. 89–90).
Das implizite, beziehungsweise prozedurale Gedächtnis ist eine verkörperte Form des Wissens, welches keine Zeit kennt. Wir behalten in der Regel zeitlos die Inhalte des prozeduralen Gedächtnisses in unseren Handlungen, somit werden seine Inhalte durch unser Verhalten sichtbar und können über die bewusste Wahrnehmung dessen ins Bewusstsein geholt werden. Die Inhalte werden durch Lernen, also Wiederholungen generiert und ein Großteil der Inhalte stammt aus der Zeit, in der das explizite, beziehungsweise episodische Gedächtnis noch nicht funktioniert. Das heißt, meist ab dem dritten Lebensjahr.
Denn das episodische Gedächtnis als Teil des expliziten Gedächtnisses ist erst möglich, wenn ein Kind Erinnerungen sprachlich als seine eigenen einordnen kann. Also muss Sprache und Ich-Bewusstsein vorhanden sein und dies ist meist ab dem dritten Lebensjahr der Fall (vgl. Geuter 2015, S. 173–174). Somit werden frühere Lebenserfahrungen „in Handlungsbereitschaften nicht sprachlich gespeichert“ (Geuter 2015, S. 174). Aber nicht nur frühe Erfahrungen, sondern auch all jene späteren affektiven, sensorischen und motorischen Erlebnisse werden zunächst noch ohne Verbindung zum Sprachzentrum oder zu kognitiven Strukturen abgespeichert.
Die impliziten Inhalte dieser Erfahrungen, welche dem Bewusstsein nicht zugänglich sind, beeinflussen zugleich die bewusst zugänglichen Inhalte und formen Grundüberzeugungen, für die es auf kognitiver Ebene keine Erklärungen gibt. (vgl. Geuter 2015, S. 173–174). Da das implizite Gedächtnis keine sprachlichen oder bildhaften Inhalte, sondern sensorische und motorisch-strukturierte Inhalte enthält, ist es für bewusste Aufmerksamkeitsprozesse nicht so einfach und unmittelbar zugänglich. Es stellt eine affektiv-sensomotorische, untrennbar mit dem Körper verbundene Einheit dar. Seine impliziten Erinnerungen werden im Limbischen System gespeichert. Dabei stellt es vor allem den Ort dar, an dem traumatische Erinnerungen gespeichert werden. Besonders in den Mandelkernen, der Amygdala, führen Erinnerungen solcher Art mit der verbundenen Angst und Ärger zu Erregungsmustern. Bei der emotionalen Bewertung von Ereignissen spielen diese eine grundlegende Rolle. Zudem ist die Amygdala bei der Verknüpfung von Lernprozessen mit Belohnung und Strafe von großer Wichtigkeit (vgl. Gottwald 2007, S. 123–124).
Die Gedächtnisinhalte sind an die Sinneseindrücke des jeweiligen Sinnessystems gebunden, in welcher das zentrale Erleben sich vollzogen hat. Durch eine erneute Stimulation solcher Eindrücke wird das Erinnern erleichtert. Denn unsere Erinnerungen werden nicht als Ganzes abgelegt. Das Gehirn (re)konstruiert frühere Ereignisse aus den einzelnen Sinnesmodalitäten. Wenn die affektive Stimmung dem Zustand des früheren Ereignisses ähnlich ist, können die Erinnerungen besser abgerufen werden (vgl. Kern 2014, S. 54). Das heißt, in einer glücklichen Stimmung wird leichter erinnert, was unter solchen glücklichen Umständen erlebt wurde und in einer depressiven Stimmung wird eher erinnert, was in einer unglücklichen Stimmung passiert ist. Für die therapeutische Arbeit sowie Selbsterfahrungskontexte heißt das, dass über Worte und Konzepte emotional bedeutsame Erinnerungen nur bedingt aufgerufen werden können. Wesentlich wirksamer ist da die Verknüpfung mit sensorischen und motorischen Anteilen und das Repräsentieren von früheren Kontexten, um emotional bedeutsame Erinnerung ins Bewusstsein zu holen. Zu dem kann aus der Sicht Gottwalds nur das mit Ressourcen und anderen Erinnerungen verknüpft und damit verändert werden, was ganzheitlich aufgerufen und erlebt wird (vgl. Gottwald 2007, S. 124).
Jedes Erleben ist durch Erinnerungen geprägt, gleichzeitig kann jedes Erleben neue Erinnerungen generieren.
Das heißt, dass z.B. Psychotherapie, sowie jede bedeutsame Begegnung solche Erinnerungen verändert. Es ist unumgänglich, Erinnerungen bewusst in einen psychotherapeutischen oder Selbstentfaltungs-Prozess mit einzubeziehen. So kann eine immer gezieltere Reorganisation bewirkt werden, sowie eine Erweiterung des von Erinnerung geprägten Erlebens. Dabei hat vor allem die Körperpsychotherapie das Potential einen direkten Zugang zum unbewussten, impliziten im Körper verankerten Gedächtnis zu schaffen und dessen Inhalte mit Worten zu verbinden. Dadurch erlebte ganzheitliche körperliche Neuerfahrungen können positive Erweiterungen von traumatischen Erinnerungsmustern schaffen, wenn nicht diese mit der Zeit sogar transformieren (vgl. Gottwald 2007, S. 124).
Implikationen für Breathwork
Was bedeutet dies nun für Pratiken wie Breathwork, bzw. verbundenes Atmen?
Verbundenes Atmen kann sehr intensive Erfahrungen mit sich bringen und eben ach implizite Gedächtnisinhalte aktivieren. Dabei zeigt sich, aus der eben referierten Forschung, dass es eine Verknüpfung und Kontextualisierung dieser Erfahrungen braucht. Das heißt: Die Erfahrung an sich reicht nicht. Sie muss eingeordnet und mit der Alltags-Realität verknüpft werden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Erfahrungen nach Breathwork-Sitzungen im "Luftleeren-Raum" hängen bleiben und keine nachhaltigen Veränderungen passieren können.
Ganz konkret bedeutet dies, dass es gut ist, sich nach einer Breathwork-Erfahrung Zeit für Integration zu nehmen, über die Erfahrung zu sprechen oder andere Wege zu nutzen- wie malen - um Sinn daraus zu ziehen. So wie also sprechen alleine meistens nicht ausreicht, um nachhaltige transfornation zu ermöglichen, so reichen auch (körperliche) Erfahrungen alleine nicht aus. Es ist die Verbindung dieser beiden Ebenen, um die es wirklich geht.
Deswegen sprechen wir auch immer wieder mit unseren Teilnehmenden während Breathwork-Sitzungen, um eben während der Erfahrung auch eine kognitive Einordnung zu ermöglichen und sicherzustellen, dass sich niemand in seiner Erfahrung verliert. Auch geben wir deswegen am Ende unserer Breathwork Workshops in Berlin und Leipzig immer Raum für Ausstausch, damit eine erste Versprachlichung der Erfahrung stattfinden kann.
Wenn Du deine Breathwork-Erfahrung tiefer integrieren möchtest kannst Du dich auch immer bei Rasmus melden. Er bietet in Berlin und online auf Grundlage von NARM™ Einzelsitzungen an:
Quellen
Geuter Ulfried (2015): Körperpsychotherapie. Grundriss einer Theorie für die klinische Praxis. Berlin: Springer.
Gottwald Christian (2007): Neurobiologische Perspektiven zur Körperpsychotherapie. In: Marlock Gustl, Weiss Halko (Hg.) (2007). Handbuch der Körperpsychotherapie. Mit 3 Tabellen. 1. Aufl. Stuttgart: Schattauer. S. 119–137.
Kern Ernst (2014): Personzentrierte Körperpsychotherapie. München, Basel: Ernst Reinhardt Verlag.
Koemeda-Lutz Margit, Steinmann Hugo (2004): Implikationen neurobiologischer Forschungsergebnisse für die Körperpsychotherapie unter spezieller Berücksichtigung der Affekte. In: Psychotherapie Forum. Jg. 12. Nr. 2. S. 88–97.
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