In den 1930er bis 1950er Jahren hat sich das Psychosomatische Paradigma entwickelt. Dieses meint eine einseitige Einflussnahme des Geistes auf den Körper und gehört heute zum Standardwissen. Das heißt, dass Symptome wie hoher Blutdruck, Magen- Darm-Beschwerden, chronische Schmerzen oder Migräne durch, zum Beispiel, beunruhigende Emotionen oder einen unruhigen Geist verursacht sein können (vgl. Levine 2017, S. 158). Durch den Vagusnerv ist das Gehirn mit den meisten unserer inneren Organe verbunden und kann so diese beeinflussen.. Damit stellt der Vagusnerv den zweitgrößten Nerv im menschlichen Körper dar, von der Größe vergleichbar mit der Wirbelsäule. Primär nutzt er dem Magen-Darm-System, indem er die Aufnahme, Verdauung, Verarbeitung und Ausscheidung von Nahrung beeinflusst. Daneben hat er wichtige Auswirkungen auf Herz und Lunge. An den Innenwänden des Magen-Darm- Trakts befindet sich zudem ein dichtes Geflecht von Nerven. Dieses komplexe Netzwerk aus verschiedenen Neuronen bildet die Grundlage für die Zusammenarbeit zwischen den Verdauungs- und Ausscheidungsorganen, indem es zwischen diesen vermittelt. Die Menge an Neuronen und weißer Substanz, die dieses komplizierte System aufweisen, ist vergleichbar mit einem Katzengehirn, weswegen es auch zweites Gehirn oder Darmgehirn genannt wird (vgl. Levine 2017, S. 158–159).
Die Tatsache, dass der Vagusnerv zu 90% sensorisch ist, ist hierbei besonders spannend und stellt das Paradigma der einseitigen, gehirngesteuerten Einflussnahme stark in Frage. Denn das heißt, dass auf jede motorische Nervenfaser, die Befehle des Gehirns an den Darm übermittelt, neun sensorische Nerven kommen, die Informationen über den viszeralen Zustand an das Gehirn senden. Der komplexe Nachrichtenaustausch, der in den inneren Organen stattfindet, wird durch die sensorischen Fasern im Vagusnerv aufgegriffen und erst an den mittleren Hirnstamm und dann an den Thalamus weitergegeben. Von dort aus nehmen diese Signale Einfluss auf das annähernd ganze Gehirn und beeinflussen unsere unbewussten Entscheidungen und damit entscheidend unser Handeln. So sind viele unserer
Sympathien und Antipathien, sowohl als auch unsere irrationalen Ängste ein Ergebnis dieser Bestandsaufnahme der inneren Zustände. So kommt Peter Levine zu dem Schluss, dass wir Menschen zwei Gehirne haben, das enterische Gehirn in den Eingeweiden und das obere Gehirn innerhalb des Schädels. Über den Vagusnerv kommunizieren diese beiden direkt miteinander, wobei die inneren Organe mehr Informationen an das Gehirn übermitteln (neun Mal mehr) als andersherum (vgl. Levine 2017, S. 158–159).
Die zweiseitige Kommunikation und Einflussnahme von Körper und Gehirn bestätigt sich auch über die experimentelle Embodiment-Forschung. Hier wurde gezeigt, wie eng das Denken und Fühlen mit Körperhaltungen und Bewegungen in Verbindung steht. Denn die Embodiment-Forschung untersucht die Auswirkungen von Körperhaltungen und Verhalten auf Gedanken und Affekte. In diesem Kontext wurde beobachtet, dass Körperhaltungen Gefühle hervorrufen oder diese verstärken können, aber nicht mit ihnen identisch sind. Die Haltung kann hierbei so verstanden werden, dass sie den in einer Emotion enthaltenen Handlungsimpuls ausdrückt. Beispielsweise kann eine aufrechte Haltung ausdrücken, sich zeigen oder stellen zu wollen, macht aber nicht alleine die Emotion aus. Denn das Handeln ist nicht identisch mit dem Denken und Fühlen, kann dieses aber beeinflussen. Weiter wurde experimentell gezeigt, dass Menschen, die unter einem Vorwand für eine bestimmte Zeit eine gebeugte Körperhaltung einzunehmen hatten, in eine gedrückte Stimmung gerieten. Im Unterschied dazu waren bei den Menschen mit einer aufrechten Haltung Gefühle von Stolz und Stärke zu beobachten (vgl. Geuter 2015, S. 158–163). Dies kann damit erklärt werden, dass der mediale präfontale Kortex, der einen Großteil seines Inputs vom Körper empfängt, die einzige Region des Neokortex ist, die das limbische System und damit die Emotionalität verändern kann. Peter Levine schlussfolgert daraus: „Deswegen ist das Gewahrsein für körperliche Empfindungen ausschlaggebend für die Veränderung funktionaler emotionaler Zustände“ (vgl. Levine 2017, S. 406). Das heißt, wir können negative emotionale Zustände vordergründig durch ein geschultes Gewahrsein für innere Körperempfindungen begegnen und sind ihnen damit nicht mehr ausgeliefert (vgl. Levine 2017, S. 406).
Heißt das also, dass ich nur meine körperliche Haltung zu ändern brauche und dann geht es mir wieder gut?
Vor allem aus entwicklungstraumatherapeutischer Perspektive ist diese Idee eher kritisch zu betrachten. Denn kurz gesagt haben ja unsere Emotionen und auch unser körperlicher Ausdruck aus dieser Perspektive einen Sinn und waren zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr wichtige Adaptionen an unsere Umstände.
So kommt vor allem aus NARM™ (NeuroAffective Relational Model - Heilung von Entwicklungstraumatisierungen) Kritik an verhaltenstherapeutischen Embodiment-Übungen. Diese Kritikpunkte basieren auf der Betonung von von Beziehung und Selbstregulierung durch NARM™ in der Therapie und Persönlichkeitsentwicklung. Hier sind die Hauptkritikpunkte:
Oberflächlichkeit der Übungen:
NARM™ kritisiert, dass verhaltenstherapeutische Embodiment-Übungen oft auf eine oberflächliche Ebene beschränkt bleiben und sich lediglich auf die physische Dimension des Embodiments konzentrieren. Diese Übungen können daher wichtige emotionale und psychologische Aspekte vernachlässigen, die für eine tiefgreifende Heilung notwendig sind (Heller & LaPierre, 2012, S. 45).
Fehlende Integration tieferer emotionaler Prozesse:
NARM™ betont die Bedeutung der Integration tieferer emotionaler und relationaler Prozesse, die in verhaltenstherapeutischen Ansätzen häufig unberücksichtigt bleiben. Nach NARM™ ist es entscheidend, die zugrunde liegenden emotionalen Muster und Beziehungen zu erkennen und zu bearbeiten, um nachhaltige Veränderungen zu erreichen (Heller & LaPierre, 2012, S. 67).
Risiko der Re-Traumatisierung:
Laut NARM™ besteht bei verhaltenstherapeutischen Embodiment-Übungen das Risiko der Re-Traumatisierung, da sie manchmal intensivere emotionale Zustände hervorrufen können, ohne ausreichende Unterstützung und sichere Rahmenbedingungen zu bieten. Dies kann bei Klienten, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, zu einer Verschlechterung der Symptome führen (Heller & LaPierre, 2012, S. 89).
Unzureichende Beachtung der individuellen Entwicklungsgeschichte:
NARM™ kritisiert auch, dass verhaltenstherapeutische Ansätze oft die individuelle Entwicklungsgeschichte der Klienten nicht ausreichend berücksichtigen. Diese Ansätze könnten zu standardisiert und unflexibel sein, um den komplexen und individuellen Bedürfnissen der Klienten gerecht zu werden (Heller & LaPierre, 2012, S. 102).
Fazit
Insgesamt wird deutlich, dass eine sowohl die körperlichen als auch die emotionalen und relationalen Aspekte berücksichtigen werden müssen, um eine nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen. Denn die Wechselwirkungen zwischen körperlicher und geistiger Ebene sind sehr kompkex und nicht einseitig. Während die Embodiment-Forschung wertvolle Einblicke in die Verbindung von Körper und Geist liefert, sollte dabei immer auch die individuelle Geschichte und die tief verwurzelten emotionalen Muster der Individuen in den Fokus genommen werden.
Deswegen arbeiten wir in unseren Breathwork Workshops in Berlin und Leipzig traumasensibel und nutzen das verbundene Atmen nicht als startegische Methode, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen und Symptome oder Verhaltensweisen weg zu machen. Vielmehr nutzen wir den Atem als Vehikel, um damit einen tieferen Kontakt mit uns selbst zu ermöglichen und allen, was in diesem Zusammenhang auftauchen will. Uns geht es dabei vor allem um den Beziehungsaspekt: wie stehe ich zu dem in Beziehung, was ich erlebe und wie wirkt sich das wiederum auf mein Erleben aus.
Quellen
Heller, L., & LaPierre, A. (2012). Healing developmental trauma: How early trauma affects self-regulation, self-image, and the capacity for relationship. Berkeley: North Atlantic Books.
Heller, L. (2012). The NeuroAffective Relational Model (NARM): An Integrative Approach to Trauma Treatment. Psychotherapy Networker, 36(4), 26-33.
Levine, Peter A. (2017): Sprache ohne Worte. Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt. 8. Aufl. München: Kösel.
Geuter, Ulfried (2015): Körperpsychotherapie. Grundriss einer Theorie für die klinische Praxis. Berlin: Springer.
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